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Fakten, Fälschungen und Fiktionen:

Forschungspraxis auf dem Prüfstand

Eine gemeinsame Veranstaltung der Gesellschaft für Wissenschafts- und Technikforschung e.V. und der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften,

4.-6. Dezember 1998, Berlin


Was ist eine Fälschung?

Warum gibt es soviel Aufregung um Fälschungen in der Wissenschaft? Kann man Fälschungen überhaupt verhindern? Um diese Fragen kreisten die Diskussionen auf einer Tagung zum Thema »Fakten, Fälschungen und Fiktionen: Forschungspraxis auf dem Prüfstand«, zu der die Gesellschaft für Wissenschafts- und Technikforschung und die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften eingeladen hatten. Die GWTF (Gesellscha00 für Wissenschafts- und Technikforschung, Anm. G. F.) verfolgt das doppelte Ziel, interdisziplinäre Zugänge in der Wissenschafts- und Technikforschung zu unterstützen und den Dialog mit NaturwissenschaftlerInnen und IngenieurInnen zu suchen. Deshalb standen auf der Tagung nicht wissenschaftliche Analysen von Fälschungsprozessen im Vordergrund, sondern unterschiedliche (auch künstlerische) Zugänge zur Problematik und die Diskussion zwischen NaturwissenschaftlerInnen und SozialwissenschaftlerInnen über die Bedeutung von Fälschungen, über die Arbeitsbedingungen im Labor und über die Aussichten, das Fälschungsproblem durch neue Regelungen »in den Griff zu kriegen«.

Die Tagung begann mit einem Vortrag von Peter Weingart, der sich mit der Frage beschäftigte, ob angesichts der Betrugsfälle das Mertonsche »Ethos der Wissenschaft« noch zu retten sei. Weingart zufolge haben die Betrugsfälle für die Wissenschaft vor allem deshalb eine existentielle Bedeutung, weil sie die zentrale Funktion von Forschung, verläßliches Wissen zu produzieren, nach außen und nach innen gleichermaßen delegitimieren. Das Vertrauen der Gesellschaft in die institutionalisierte Wissensproduktion wird erschüttert, und das in einer Zeit, in der es immer schwieriger wird, die enormen Ausgaben für Wissenschaft zu rechtfertigen. Wissenschaftsintern wird das Vertrauen in den basalen Mechanismus der Qualitätskontrolle »die Begutachtung von Vorhaben und Ergebnissen durch Fachkollegen« unterminiert. Das von Merton formulierte Ethos der Wissenschaft scheint, so Weingart, gleich zweifach der Postmoderne zum Opfer zu fallen: der gesellschaftliche Wertewandel bringt »personality«, Authentizität und Kreativität ohne Standards statt Universalismus, Kommunismus, Uneigennützigkeit und organisierte Skeptizismus (Ezrahi). Die Wissensproduktion selbst wird von Alimentierung auf Marktmechanismen umgestellt, was †berproduktion, Instrumentalisierung des Wissens und interessengebundene Wissensproduktion mit sich bringt (Forman). Die mit diesem Vortrag und in der Diskussion aufgeworfenen Grundsatzfragen blieben auch in den folgenden Diskussionen gegenwärtig.

Gerhard Fröhlich stellte eine Typologie der Fälschens vor, in der er letztere anhand ihrer Schäden für die Wissensproduktion klassifizierte. Unter diesem Gesichtspunkt sind alle Formen »unethischer Autorenschaften« unproblematisch, weil »nur« die Zuschreibung zum Produzenten gefälscht wird. Hierzu muß man natürlich anmerken, daß erhebliche Schäden entstehen können, wenn unfähige und unethisch Arbeitende durch solche Praktiken ihre Position befestigen.Direkte Schäden für die Wissensproduktion entstehen erstens, wenn Konkurrenten behindert werden , sei es durch direkte Einschüchterung und Bedrohung, sei es durch die Unterdrückung von Arbeiten anderer, weil sie den eigenen Vorhaben schaden. Zweitens entstehen direkte Schäden, wenn Daten erfunden und manipuliert werden. Die Gründe dafür können vielfältig sein, ein nicht selten auftretender Grund ist Fröhlich zufolge »paradigmatische Gefangenschaft«, d.h. das Bestreben, eine für richtig gehaltene Theorie mit allen Mitteln zu beweisen. Eine wichtige fördernde Bedingung für die Verbreitung der verschiedenen Formen unethischen Verhaltens sah Fröhlich in der Beschaffenheit der peer review, d.h. der wechselseitigen Begutachtung der wissenschaftlichen Arbeiten. Das wurde auch in der Diskussion unterstützt, in der immer wieder auf die Konzentration der Begutachtung auf wenige Personen und auf deren quantitative †berlastung hingewiesen wurde.

Machen die veränderten Forschungsbedingungen Fälschungen wahrscheinlicher? Diese Frage stand im Mittelpunkt einer Diskussion, in der BiowissenschaftlerInnen (Gerhild Schwoch, Regine Kollek, Peter Oehme) und eine Wissenschaftshistorikerin (Petra Gentz-Werner) die »Produktionsbedingungen« beschrieben, unter denen verläßliches wissenschaftliches Wissen, aber eben auch Fälschungen entstehen. Der Wandel in den Forschungsbedingungen, der sich in den letzten Jahrzehnten vollzogen hat, hat ambivalente Wirkungen: die Technisierung ermöglicht einerseits eine stärkere Standardisierung, andererseits lassen die modernen Geräte mehr Manipulationen mit Daten zu, und die Technik werde zunehmend undurchschaubar. Die Präsentation von Ergebnissen hätte sich deutlich verändert, der Trend zur Effekthascherei und zur Beschönigung von Ergebnissen (durch Vernachlässigung von Fehlerdiskussionen, geglättete Abbildungen usw.) sei unübersehbar. Ein Vergleich der Motivationen wissenschaftlicher Arbeit in der DDR und heute zeigte vor allem bezüglich der größeren Offenheit von Karrieren (im positiven wie im negativen Sinne) und des Drucks auf Publikationen deutliche Unterschiede. Fälle von Fehlverhalten habe es in der DDR auch gegeben, sie seien »lokal«, d.h. nicht öffentlich, diskutiert und bereinigt worden. Die Perspektive der Wissenschaftsgeschichte zeigte an einem bis heute umstrittenen Grenzfall auf, daß die Unterscheidung zwischen Fälschung, Selbsttäuschung und unverstandenen Kausalmechanismen auch nach jahrzehntelanger wissenschaftlicher Debatte und häufiger Wiederholung von Experimenten außerordentlich schwierig sein kann. Dem entspricht auch, daß ein Wissenschaftler, den die einen für einen Fälscher halten, für die anderen ein Märtyrer seiner Idee ist.

Ein anschließender künstlerischer Zwischenruf« behandelte in Form einer Lesung einen berühmt gewordenen Fälschungsfall ö des »Krötenküssers« Paul Kammerer (1881-1926). Die genauen Umstände der Fälschung waren nie aufgeklärt worden. Die Lesung zeichnete das Bild eines Menschen, der »die Ergebnisse seiner Forschungen so glühend herbeisehnte, daß er unbewußt von der Wahrheit abweichen konnte«, und der mit seinen Experimenten zur Vererbung erworbener Eigenschaften in die ideologischen Auseinandersetzungen seiner Zeit hineingerissen wurde.Die Diskussion der Empfehlungen der DFG (Deutsche Forschungsgemeinschaft, Anm. G. F.) zur Sicherung einer guten wissenschaftlichen Praxis stellte Ulrike Beisiegel vor, die in der Kommission mitgearbeitet hat. Sie erläuterte die Absicht der Kommission und illustrierte an Beispielen, wo die Empfehlungen von Nutzen sein könnten. Damit sie einen solchen Nutzen entfalten können, müssen die Empfehlungen jetzt in den Wissenschaftsorganisationen und wissenschaftlichen Einrichtungen umgesetzt werden. Ein Vorzug, den die Empfehlungen schon jetzt hätten, bestünde darin, daß WissenschaftlerInnen, die gegen wissenschaftliches Fehlverhalten vorgehen wollen, stärkeren Rückhalt hätten.Obwohl diese Einschätzungen nicht bestritten wurden und auch übereinstimmend festgestellt wurde, daß es noch zu früh sei, um die Wirkungen der Empfehlungen beurteilen zu können, wurde doch teilweise heftige Kritik laut. Während die Biowissenschaftler mit den durch neue Forschungs- und Behandlungsmethoden aufgeworfenen ethischen Problemen weitgehend alleingelassen würden, würde der Fälschungsproblematik viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet, als sie eigentlich verdiene. Auch die Versprechungen der Naturwissenschaftler, die erhebliche Aufwendungen der Gesellschaft für Forschung auslösten (Biotechnologie, Weltraumforschung) seien ungleich problematischer als die Fälschungen, deren ausführliche und medienwirksame Behandlung die Sicht auf die eigentlichen Probleme des Wissenschaftsbetriebes eher verstelle. Aus mehreren Perspektiven wurde die Wirksamkeit der Empfehlungen angezweifelt, insbesondere wegen der starken Betonung der Selbstkontrolle. Seien die Empfehlungen nicht nur ein Versuch, die Probleme intern zu bereinigen, um das angeschlagene Image der Wissenschaft zu retten? Diese Fragen, wie auch die Frage nach dem Nutzen einer stärkeren externen Kontrolle, mußten offen bleiben.

Standen bislang die Biowissenschaften und die Medizin im Zentrum der Aufmerksamkeit, so wurde in der anschließenden Diskussion zu den Sozialwissenschaften deutlich, daß diese nur scheinbar besser dastehen. Der Vortrag von Erhard Stölting steuerte - neben der Analyse einer ganzen Reihe von Fälschungen in den Geschichts- und Sozialwissenschaften - einige bemerkenswerte Einsichten bei. Zunächst setze das Fälschen eine hohe Professionalität voraus. Man könne in der Wissenschaft keine Fälschungen produzieren, wenn man nicht in der Lage sei, mit hoher Professionalität all das zu tun, was alle anderen Wissenschaftler auch tun. Auch könnten nur Aussagen eines bestimmten Typs überhaupt gefälscht werden, nämlich Aussagen, die wahr oder falsch sein können. Mit welchem Wahrheitsbegriff operieren wir in den Sozialwissenschaften, wenn wir über Fälschungen sprechen? Schließlich wurde deutlich, daß man mit Fälschungen zumindest versuchen kann, Gesellschaft zu beeinflussen, wie an einem prominenten Beispiel - Aussagen aus dem Kinsey-Report - deutlich wurde.

Gert Wagner beschäftigte sich anschließend mit der Frage, »warum die quantitativ arbeitende empirische Sozialforschung so wenig Fälschungsskandale kennt«. Er argumentierte für große quantitative Untersuchungen, in denen Erhebung und Auswertung voneinander getrennt seien, und für bessere Bedingungen für Sekundäranalysen. Obwohl die ZuhörerInnen ihm zugestanden, daß damit wichtige Anreize für Fälschungen aus der Welt geräumt werden könnten, gab es generell eine große Skepsis, ob diese Vorteile ein hinreichender Grund sein könnten, quantitative Forschung quasi nur noch als Großforschung durchzuführen.

Eine abschließende Diskussion über die Frage, wie der »Merton von heute« aussehen könnte, wurde durch Hazel Rosenstrauch eingeleitet. Sie berichtete über Erfahrungen, die sie bei der Redaktion des Heftes »Lug und Trug in den Wissenschaften« gesammelt hat. Nach einer anfänglichen Zurückhaltung, sich zu dem Thema öffentlich zu positionieren, gibt es mittlerweile ein breites Interesse und offensichtlich auch einen großen Diskussionsbedarf. Die undemokratischen Strukturen im Wissenschaftsbetrieb, die wenigen Personen sehr viel Macht einräumen, seien eine der Randbedingungen, die Fälschungen begünstigen und ihre Aufdeckung verhindern.

In der abschließenden Diskussion wurde unter diesem Thema auch das Problem des Gutachtersystems noch einmal angesprochen: Die Konzentration von Arbeit und Macht bei wenigen wird immer mehr zu einem Handicap dieser Form der Qualitätskontrolle.Damit wurde zugleich das nächste Thema umrissen, mit dem sich die Gesellschaft für Wissenschafts- und Technikforschung beschäftigen wird: Der Einfluß der Gutachtersysteme auf die Dynamik von Wissenschaft und Technik. InteressentInnen sind herzlich zur Mitarbeit eingeladen.

Jochen Gläser,

AG Wissenschaftstransformation /
Wissenschaftszentrum Berlin fuer Sozialforschung,
Reichpietschufer 50
D-10785 Berlin, BRD,

<jglaeser@medea.wz-berlin.de>


Für das W3 aufbereitet: Karl.Pfeiffer@iwp.uni-linz.ac.at
am 19 JAN 99

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